Ein Essay über Verbundenheit und Wahrnehmung
Was erzählt ein Baum? Was sagt eine Landschaft über uns?
Vielleicht sind es keine Antworten, die wir suchen sollten, sondern die Fragen selbst, die uns erinnern: Wir sind Teil eines Gewebes, das größer ist als unser eigenes Leben. Wer still wird, hört, dass es nicht nur um uns geht.
Ich sitze unter einem Baum, in meinem Garten. Er gehört mir nicht, und doch kennt er mich, meine Anwesenheit. Mit jedem Schritt über diesen Boden, mit jedem Atemzug im Schatten des Baumes, ist er weniger „ein Baum“ als mein Gegenüber – eines, das meine Tage sieht, ohne sie zu zählen.
Im Augenwinkel sehe ich das leuchtende Gelb der Sonnenblumen auf dem Nachbargrundstück. Über mir das federleichte Schwingen der Vögel, das Krächzen der Gänse, die jeden Abend zur gleichen Zeit meinen Garten überqueren – in dieselbe Richtung. Ich stelle mir vor, wie sie einander antreiben: „Rasch nun, los, los, wir müssen noch etwas erledigen, ihr wisst doch; wo sind nur die Stunden des Tages geblieben?“ Auf dem Rückweg dann leiser, stets gut eine Stunde später, die Dunkelheit schon im Anflug: „Morgen fliegen wir früher los, diesmal wirklich, versprochen.“
Wenn ich die Augen schließe, höre ich auch andere Flügel, anderes Rufen – die Stimmen der Vögel vom Ort unter den Sternen, deren Gesang mich einmal aus der Zeit hob. Ich saß auf einer Veranda, mit Blick auf den Ozean, die Luft durchzogen vom eindrücklichen Klang ihrer Rufe. Je länger ich lauschte, desto weiter glitt ich fort von dem, was ich „hier“ nenne. Das war kein Traum, kein Schlaf, eher ein sanftes Hinübergleiten – an einen Ort, der nicht zu dieser Erde gehörte und dennoch so vertraut war.
Seit ein paar Tagen verbringe ich wieder mehr Zeit im Garten. Liege unter dem Baum, die Augen geschlossen, gehalten vom Rascheln der Blätter. Ein Mückenstich holt mich zurück, dann tauche ich wieder ein in die Schichten des Grüns über mir. Das Licht glitzert hindurch, die Bewegung der Blätter folgt einem Rhythmus, der nicht nur vom Wind kommt. Manchmal nehmen sie Gestalt an, da sind Gesichter, Umrisse – und ich frage mich, ob sie auch mich betrachten.
Noch bevor auf der Insel des ersten Lichts die Sonne den Horizont berührt, liegt das Meer wie eine glatte Haut. Kein Kräuseln, kein Wind – nur ein schmaler Streifen Gold, der langsam wächst, bis er die Wellen überflutet. Es ist, als würde der Tag hier vorsichtig geöffnet, Schicht für Schicht, bis das Licht wie warmer Atem auf die Haut fällt. Ich sitze am Strand, den Rücken an den Fels gelehnt, lausche dem Rauschen, das aus der Tiefe kommt. Der Brandung – nicht laut, eher wie ein beständiges Erinnern. Ich verschmelze mit allem, was mich umgibt, vergesse Zeit und Raum, bin Teil einer uralten Erzählung.
Am frühen Morgen im Garten ist es ein anderes Erwachen. Kein Meer, kein goldener Horizont – und doch liegt etwas im Nebel über den Wiesen, das den
Tag sanft aufschließt. Die Vögel beginnen zögerlich und zugleich energisch. Als Kind hatte ich ein Buch, „Die Vogeluhr“. Ist es die Amsel, die ich zuerst höre? Die ersten Töne klingen, als
müssten sie erst prüfen, ob die Welt bereit ist, sie zu hören. Ich stelle mir vor, wie die Luft durch ihre Kehlen strömt und die Töne nach außen dringen. Wenn es kalt ist, kann man den Gesang
sehen. Ist das nicht unglaublich?
Dieser Zauber, der in allem liegt.
Am Ort unter den Sternen beginnt der Tag oft im Schweigen. Dann, ganz plötzlich, hebt sich ein Klang aus der Dunkelheit – nicht einer, sondern viele, ineinander verschränkt wie Fäden, bis ein Gewebe den Raum füllt. Ich habe gelernt, still zu bleiben, weil sich dann die Geheimnisse offenbaren: Gestein in Farben, die ich nicht benennen konnte. Flüsse, die in der Luft hingen. Wesen aus einer anderen Dimension. Vielleicht waren es Erinnerungen, vielleicht Vorahnungen. Vielleicht einfach eine andere Form der Wahrnehmung – der unfassbaren Vielfalt.
Am Rand des Gartens, wo das Gras unregelmäßig wächst, steht ein Stück Drahtzaun schief in der Erde. Das Relikt eines früheren Besitzers, der hier wohl Grenzen ziehen wollte. Nun ist der Draht rostig, die Ranken einer Rose haben ihn umschlungen, ihn zu einem Teil ihrer eigenen Architektur gemacht.
Wir Menschen glauben oft, wir könnten festlegen, wo etwas beginnt und endet. Die Natur lächelt darüber – und schreibt einfach weiter.
Auch am Ort unter den Sternen gibt es Spuren, manche frisch, andere alt. Ein ausgetretener Pfad zwischen zwei Lavahügeln, so schmal, dass er eher wie ein Gedanke wirkt, der zu oft gedacht wurde. Wie lange er wohl bestehen bleibt, bis Wind und Staub ihn wieder schließen? Wie lange haben unsere Gedanken Bestand? Hier oben jedenfalls, wo die Sterne so nah scheinen, fühlt sich alles, was wir hinterlassen, unendlich klein an.
Am Strand der Insel des ersten Lichts liegen angeschwemmte Plastikstücke zwischen Muscheln und Treibholz. Ein seltsames Nebeneinander: das Fragile, von Wellen geformt, und das Hartnäckige, von Menschen gemacht – das Überflüssige. Ich hebe ein Stück auf. Es hat die Farbe des Himmels im Morgengrauen. Seltsam, wie wir selbst im Zerstörerischen manchmal Schönheit sehen könnten, wenn uns das Widernatürliche nicht bewusst wäre.
Im Garten gibt es Tage, an denen alles in Bewegung ist – Bienen, die tief in den Blüten verschwinden, Spatzen, die im Staub baden, die Rotschwänzchen, die so aufgeregt plappern und mit der Katze schimpfen. Dazwischen jene Tage, an denen sich nichts zu regen scheint. Nur das Summen einer Hummel, die schwer beladen durch die Luft taumelt. Es sind diese stillen Tage, die am längsten bleiben. Weil sie lehren, dass nicht alles laut sein muss, um Wirkung zu haben. Und dass nicht alles sichtbar sein muss, um zu geschehen.
Auf der Insel des ersten Lichts, wenn die Sonne hoch genug steht, werden selbst die Schatten hell. Der Sand blendet, das Meer trägt winzige Lichtsplitter bis weit an den Strand. Die Wellen sind einladend und gleichzeitig unberechenbar. Wer die Strömung unterschätzt, läuft Gefahr, hinausgetrieben zu werden. Der Fisch in der Wellenkrone schaut ebenso erstaunt wie ich, als sich unsere Blicke begegnen.
Vielleicht ist es das, was Natur uns lehrt: Sie braucht uns nicht – und genau darin liegt die Einladung. In jedem Blatt, das vom Baum fällt, in jeder Welle, die bricht, steckt eine Erinnerung daran, dass unsere Anwesenheit weder Zentrum noch Maßstab ist. Wir sind keine stillen Beobachter, sondern mittendrin. Beteiligte in einem fortlaufenden Zusammenspiel, das älter ist als jede Zivilisation.
Unsere Verantwortung beginnt dort, wo wir verstehen, dass Eingreifen nicht immer Handeln bedeutet – manchmal heißt es, den Raum zu lassen, den wir so oft besetzen. Manchmal heißt es, unsere Spuren leicht werden zu lassen, wie Atem auf Glas, der verschwindet, sobald Licht darauf fällt. Vielleicht liegt in dieser Haltung die einfachste und schwierigste Aufgabe zugleich: so zu leben, dass das, was nach uns bleibt, nicht Last, sondern Einladung ist – den Faden aufzunehmen, weiterzuerzählen,
im Rhythmus der Vögel, im Takt der Gezeiten, unter dem Licht ferner Sterne, das längst unterwegs war, bevor wir geboren
wurden. Und so schreibe ich, weil ich verstehen will, wie eng wir wirklich mit allem verbunden sind. Mit den Bäumen, die uns atmen
lassen, mit den Vögeln, die unseren Tagen Takt geben, mit den Steinen, die mehr Zeit gesehen haben, als wir begreifen können. Vielleicht liegt darin die einfachste
Wahrheit: Wir sind nicht getrennt.
© 2025 Birgit Brauburger | Idee und Text